Unter einer (vermeintlichen) Anonymität agieren und verhalten sich Menschen anders als in der realen Welt, in der sie anderen gegenüberstehen.
Wie schnell und einfach ist ein Hasskommentar im Internet gepostet. Das getraut man sich eher, als der Zielperson direkt gegenüber zu stehen und ihr die Schmähtirade ins Gesicht zu schleudern. Im Nichtbekanntsein wähnt man sich in einer unendlichen Freiheit zu bewegen und tun und zu lassen, was man will.
Floridi vergleicht den Computer mit dem unsichtbaren Ring von Gyges, einem sagenumwobenen König im antiken Kleinasien. Was würde ein Mensch tun, wenn er nicht zu befürchten hätte, für seine Taten bestraft zu werden, also sozusagen unsichtbar wäre? Bei Platon wird es so beschrieben:
„Wenn es nun zwei solcher Ringe gäbe, und den einen der Gerechte, den anderen der Ungerechte sich ansteckte, so würde aller Vermutung nach wohl keiner so fest umpanzert sein, dass er bei der Gerechtigkeit verharrte und es über sich brächte sich fremden Gutes zu enthalten und es nicht zu berühren, angesichts der Freiheit, die er hätte, selbst vom Markte alles, wonach ihm gelüstet, unbedenklich wegzunehmen, in die Häuser einzudringen und beizuwohnen wem er wollte und zu morden und aus der Gefangenschaft zu befreien wen er nur wollte, und sich auch sonst alles zu erlauben wie ein Gott unter den Menschen.“ (Platon, Politeia II, 359b-360d) Und sie verhielten sich so wie er es geahnt hatte, nämlich sozial gesehen, potenziell weniger verantwortlich. (Floridi 2015, S. 148)
Anonyme Posts enthalten mehr Provokationen, mehr Beleidigungen, mehr unzivilisiertes Verhalten als Kommentare unter richtigem Namen. In der nicht-digitalen Welt nennt man dieses Phänomen „Deindividuation“. Sie ereignet sich dort, wo die Menschen aufhören, selbstverantwortliche Personen zu sein. Im Fussballstadion in der Fankurve oder in uniformierten Gruppen zum Beispiel. In solchen Umgebungen tun die Menschen Dinge, die sie als einzelnes Individuum niemals tun würden. Aber wird alles gut, wenn die Anonymität im Internet beseitigt wird? Südkorea hatte eine Klarnamenpflicht eingeführt mit der Folge, dass die Pöbeleien im Netz praktisch nicht zurückgingen. In der Folge wurde das Gesetz wieder aufgehoben. Das Hauptargument war aber, dass die Anonymität einen wesentlichen Beitrag zur Meinungsfreiheit leiste und somit die Demokratie eines Landes stärke. (Netzer 2016, S. 71) Wobei man letzteres in Frage stellen darf. Hat die Demokratie eines Landes nicht längst ins Gras gebissen, wenn die Bevölkerung für seine Äusserungen der Anonymität bedarf?
Soziale Medien wie Facebook oder Twitter haben genaue Regeln, was auf ihren Seiten erlaubt ist und was nicht. Allerdings wohl eher aus wirtschaftlichen denn aus ethischen Gründen… Mehr davon im nächsten Beitrag über die Anonymität im Netz.